Dann ist automatisch die Frage, wer das "I" wie bestimmt.
Spielpraktisch spielt man meist doch eine Meischung aus RAI, im Diskurs mit den Spielern und entscheidet am Ende als SL selbst. Dabei sind drei Aspekte zu beachten:
1. Abhängig von der Qualität des Regelwerks gleichen sich RAI und RAW an. Ich wage aufgrund eigener Spielerfahrung und geführter Regeldiskussionen zu behaupten, dass in Midgard RAI und RAW eher weiter auseinander gehen, in Savage Worlds oder D&D4 eher näher beisammen liegen. Wer Diskussionen um RAI und RAW reduzieren möchte, wird auf lange Sicht eher zu Regelwerken greifen müssen, bei denen beides möglichst gut zusammen fällt. Je eingespielter und homogener die Gruppe ist, desto eher kann darauf wiederum verzichtet werden - eine Runde, die gleich tickt, kann ganz vergessen, wie sehr sie Midgard interpretieren und sogar der festen Überzeugung sein, sie spielten es RAW. Die Angleichung von RAI und RAW ist darum besonders in unsicheren Phasen hilfreich, z.B. bei der Aufnahme neuer Spieler oder dem Erkunden eines neuen Systems.
2. Der Diskurs mit den Spielern ist unbedingt notwendig, da er dazu dient, die verschiedenen individuellen Vorstellungsräume anzugleichen und zu einem gemeinsamen Vorstellungsraum zu gelangen. Dazu hört man sich Argumente an, lässt sich Vorhaben erläutern und klärt auch Missverständnisse. Außerdem hilft er dabei, die Spielrunde zu homogenisieren und eine gemeinsame Auslegungspraxis der Spielregeln zu finden.
3. Der Spielleiter entscheidet, weil er als Souverän fungiert. Souveränität bedeutet nicht, über den Regeln zu stehen, sondern über das zu entscheiden, was nicht von den Regeln abgedeckt wird (der berüchtigte Ausnahmezustand). Dies geschieht deshalb, weil der demokratische Prozess in der akuten Situation unpraktikabel ist (z.B. das Ergebnis erst liefert, wenn es zu spät ist). Außerhalb des Spiels kann ein demokratischer Prozess stattfinden, auch in Form einer Kritik der Entscheidungen.
Da Rollenspiel grundsätzlich eine demokratische Angelegenheit ist - notfalls erfolgt eine Abstimmung mit den Füßen - wird dem Spielleiter seine Souveränität natürlich nur durch die Spieler verliehen. Die gegenseitige Kontrolle ist also automatisch da. Um den Spielleiter von der Kontrolle durch die Spieler zu befreien, müssten die Spieler zum Spiel mit diesem SL gezwungen werden. Dann bekäme der Spielleiter etwas von einem Diktator oder einem Gefängnisdirektor, der auch die Regeln festlegt.